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Auch Ignoranz kostet

Mit seinem Schweizer Start-up Vertify.earth nutzt Michael Anthony künstliche Intelligenz, um Veränderungen in der Natur sicht- und messbar zu machen. Im Interview zeigt er die Chancen und die Grenzen von KI auf – und erklärt, wie sie die Umwelt und die Biodiversität netto-positiv beeinflusst.
Michael Anthony, beginnen wir mit einem Elevator Pitch: Was macht Vertify.earth?
Vertify.earth macht aus Satellitendaten Beweismaterial für die Natur. Dank uns verstehen Investorinnen und Investoren, Unternehmen und öffentliche Institutionen, wie ihre Aktivitäten Land, Wasser und Biodiversität beeinflussen – mit verifizierbaren und ortsspezifischen Daten. Kurz gesagt: Wir machen Natur sichtbar, messbar und verantwortbar.
Was war der «Aha-Moment», der Sie zur Gründung dieser Plattform führte – und warum gerade jetzt?
Während meiner Tätigkeit in der Klimaversicherung habe ich erlebt, wie schwierig es ist, die tatsächlichen Gegebenheiten vor Ort zu überprüfen – ob Wälder sich erholen oder Felder noch überflutet sind. Es gab zwar viele ausgefeilte versicherungsmathematische Modelle. Doch diese arbeiteten oft mit fragwürdigen Daten, da Schadensregulierungen auf allgemeinen Beobachtungen und ein paar Zufallskontrollen statt auf präzisen räumlichen Informationen basierten. Da wurde mir bewusst: Satellitendaten verschaffen uns einen umfassenderen Blick, der auch Abhängigkeiten aufzeigt – zum Beispiel, welche Ereignisse zu Naturkatastrophen führen oder wie sich industrielle Aktivitäten auf die Natur auswirken.
Wo sehen Sie das größte Potenzial von KI zum Schutz der Biodiversität?
KI hilft uns, Muster zu erkennen, die Menschen übersehen – subtile Veränderungen in der Waldstruktur, Bodenfeuchtigkeit oder Trübung von Gewässern über große Landschaften hinweg. Ihr größtes Potenzial liegt in Frühwarnsystemen: KI erkennt Stress in Ökosystemen, bevor er sichtbar wird, oder sagt vorher, wo sich Degradierung als Nächstes ausbreitet.
Dies ist jedoch nur möglich, wenn automatisierte Prozesse auf fundiertem menschlichem Fachwissen aufbauen und von Gemeinschaften wie Landwirtinnen und Landwirten sowie Expertinnen und Experten, die Standards, Werte und Richtungen definieren, mitgestaltet sind.
KI allein weiß nicht, wo sie anfangen, oder wo sie menschliche Einsichten einbeziehen sollte. Sie kann bestehende Analysen verbessern, aber kaum neue Methoden erfinden.

KI allein weiß nicht, wo sie anfangen, oder wo sie menschliche Einsichten einbeziehen sollte. Sie kann bestehende Analysen verbessern, aber kaum neue Methoden erfinden.
Gibt es ein Projekt oder eine Technologie bei Vertify.earth, bei dem KI etwas ermöglichte, das zuvor undenkbar war?
Wir untersuchten einmal die Baumwollernte in Xinjiang, wo Importeurinnen und Importeure beschuldigt wurden, Zwangsarbeit an der uigurischen Minderheit zu nutzen. Die chinesische Regierung behauptete, die Baumwolle werde überwiegend maschinell geerntet – also ohne Arbeitskräfte, geschweige denn Zwangsarbeit. Mit Satellitenbildern und maschinellem Lernen analysierten wir die tatsächliche Erntepraxis. Es zeigte sich: Die meisten Felder wurden per Hand geerntet, direkt neben Arbeitslagern – ein klarer Widerspruch zur offiziellen Darstellung.
KI verbraucht aber auch Ressourcen und belastet Ökosysteme. Wie geht Vertify.earth mit diesem Paradox um?
Das ist eine berechtigte Frage. Jede KI-Anfrage hat einen ökologischen Fußabdruck – aber auch Ignoranz kostet. Das Training von KI ist sehr ressourcenintensiv. Darum setzen wir auf bestehende KI-Architekturen, anstatt ständig neue zu trainieren. Wir sind zu klein, um das Rad neu zu erfinden – und müssen es auch nicht.
Viele Aufgaben brauchen kein großes Sprachmodell; die meisten Analysen lassen sich mit einfachen, gut trainierten Algorithmen durchführen, die nur einen Bruchteil der Rechenleistung benötigen.
Statt immer größere Modelle zu jagen, verfeinern wir bestehende Intelligenz und machen sie kontextbewusster.
So schaffen wir ein deutlich positives Gleichgewicht: Digitale Intelligenz reduziert ökologische Unsicherheit, anstatt sie zu vergrößern.
Hat KI Sie schon einmal überrascht?
KI überrascht uns oft – manchmal auch durch Fehler. In einem Projekt zur städtischen Flächennutzung zeigte ein Modell einen starken Anstieg versiegelter Flächen. Tatsächlich handelte es sich um braune Ackerflächen, welche die KI fälschlicherweise als Dächer interpretierte, denn die Farbe war die gleiche. In einem anderen Projekt in Goa und im Himalaja trainierten wir Deep-Learning-Modelle mit lokalen Satelliten- und LiDAR-Daten zum Schätzen der Waldmasse. Die Ergebnisse waren deutlich genauer als die globalen Modelle der US Raumfahrtbehörde NASA. Eine klare Lektion: Globale Datensätze sind mächtig, aber ohne lokales Training und Kontext können sie irreführen. Am Ende zählen Kontext und menschliche Interpretation.
Welche Start-ups im Bereich Umweltschutz und Biodiversität finden Sie besonders spannend?
In Europa inspiriert mich besonders Constellr aus Deutschland, das mit thermalen Satelliten Wasserstress in Pflanzen und Ökosystemen erkennt. Svarmi in der Schweiz kombiniert Satellitendaten mit Drohnen und erfasst so Bereiche, die Satelliten allein nicht erreichen.
Sehr vielversprechend finde ich auch akustische Sensorik und eDNA-Analysen – von Unternehmen wie Synature und DNAir in Zürich sowie NatureMetrics im Vereinigten Königreich.
Gemeinsam weisen sie den Weg in eine Zukunft mit multisensorischer Naturüberwachung.

Globale Datensätze sind mächtig, aber ohne lokales Training und Kontext können sie irreführen.
Worauf sind Sie bei Vertify.earth besonders stolz?
Ich bin stolz darauf, dass unsere Daten reale Entscheidungen vor Ort verändert haben. Im Himalaja halfen wir einem Impact-Investor, sein Portfolio mit IRIS+-Biodiversitätsindikatoren zu messen. Dank dem Kombinieren von Satelliten-, Sensor- und sozioökonomischen Daten konnten wir zeigen, welche Projekte tatsächlich naturpositive Ergebnisse liefern. Das half dem Investor, die Praktiken seiner Portfoliounternehmen zu verbessern und so Kapital in Aktivitäten mit stärkerem ökologischem Impact zu lenken.
Was sind Ihre Learnings, was würden Sie heute anders angehen?
Wir haben gelernt, dass Kontext Technologie schlägt. Am Anfang konzentrierten wir uns zu sehr auf Algorithmen – heute liegt der Fokus auf Landschaft, Saisonalität und den Menschen hinter den Daten. KI ist stark, aber sie hat Schwierigkeiten mit Kontext – und genau hier ist menschliche Intelligenz zentral.
Ein einfaches Beispiel aus der Fernerkundung: Ein KI-Modell stuft überschwemmte Felder in Südasien als Katastrophe ein. Kennt man jedoch die Kulturpflanze und die Jahreszeit, weiß man: Es handelt sich nur um bewässerten Reis. Partnerschaften und lokales Wissen sind somit wichtiger als Code. Würde ich noch einmal neu beginnen, würde ich weniger Zeit damit verbringen, Modelle zu trainieren und mehr damit, den lokalen Kontext zu verstehen.
Wenn Sie sich eine Superkraft wünschen könnten für Vertify.earth – welche wäre das?
Wir messen die Erde mit Satelliten. Hier gibt es technische Grenzen, zum Beispiel Wolken. Viele Sensoren sehen nicht durch sie hindurch, selbst Radar hat blinde Flecken. Eine echte Superkraft wäre, diese Wolken klar zu durchdringen.
Die andere Superkraft ist menschlich: Zusammenarbeit. Wer mit Partnern arbeitet, die ihren Natureinfluss selbst messen und prüfen, sieht weiter als mit Technologie allein.
Blicken wir in die Kristallkugel: Wo steht KI im Jahr 2035 in Bezug auf Klima- und Umweltschutz?
Im Jahr 2035 ist KI Teil der alltäglichen Infrastruktur des Umweltmanagements– von automatischen Habitat-Warnungen bis zu prädiktiven Modellen für Landnutzung und Renaturierung. Das Rückgrat dafür bilden globale «Foundational Models», wie das kürzlich von Google veröffentlichte. Die echten Durchbrüche kommen jedoch mit dem Anpassen dieser Modelle an lokale Realitäten. Jedes Ökosystem ist anders, und erst die Kombination globaler KI-Infrastruktur mit offenen, lokal erhobenen Daten macht die Modelle wirklich nützlich. Hier müssen wir menschlichen – oder in diesem Fall lokalen – Stimmen vertrauen. KI ist sehr selbstbewusst; sie stellt aber keine Fragen, wenn sie die Antwort nicht kennt. Wir brauchen mehr Demut, besonders im Hinblick auf indigenes Wissen und die Komplexität der Natur.
Kritisch bleiben und bewusst an unseren Werten arbeiten: Das kann nur der Mensch. Bis 2035 haben wir hoffentlich die richtigen Leitplanken gesetzt, die uns daran erinnern.

Kritisch bleiben und bewusst an unseren Werten arbeiten: Das kann nur der Mensch. Bis 2035 haben wir hoffentlich die richtigen Leitplanken gesetzt, die uns daran erinnern.

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